Am 4. Juli 1776 erklären sich 13 nordamerikanische Kolonien als die Vereinigten Staaten unabhängig vom britischen Königreich. Doch das Imperium schlägt nun (friedlich) zurück: am 9. Februar 1964 beginnt mit dem Auftritt der Beatles in einer amerikanischen Fernsehshow die "British Invasion" der Popmusik, die eine starke Radio- und Hitparadenpräsenz von Musikern aus England einleitet. Mehr als 40 Prozent der lebenden Amerikaner sehen bei diesem epochalen TV-Ereignis zu, nicht wenige beschließen unmittelbar danach, selbst eine Beatband zu gründen. Die Sendung ist ein Wendepunkt der Popkultur.
Die Fernseh-Varieté-Show von Moderator Ed Sullivan wird seit 1948 jeden Sonntagabend live aus New York City übertragen. Musiker wie Bill Haley und Elvis Presley haben in der Show ihre ersten großen Fernsehauftritte. Jack Babb, der Talentsucher der Ed Sullivan Show, fährt jeden Sommer nach Europa, und sucht nach neuen Künstlern für die kommende Staffel. Sein Kontaktmann in London, Peter Prichard, schlägt ihm die Beatles vor, aber das Interesse bleibt trotz der in Großbritannien bereits grassierenden Beatlemania gering. Am 31. Oktober 1963 jedoch reist Showmaster Ed Sullivan mit seiner Ehefrau auf dem Rückweg nach New York durch den Londoner Flughafen Heathrow und trifft dort auf über 1.500 begeisterte Beatles-Fans, die auf die Wiederkehr ihrer Helden von der Konzerttournee aus Schweden warten. Jetzt geht alles sehr schnell, Beatles-Manager Brian Epstein fliegt schon am 5. November 1963 nach New York und vereinbart direkt mit Ed Sullivan per Handschlag drei Auftritte der Band in der Show (zwei davon live, einer als Vorab-Aufzeichnung).
Die Plattenfirma EMI plant (zusammen mit dem amerikanischen Partnerlabel Capitol Records) die Veröffentlichung von Beatles-Platten in den USA ab Februar 1964 und hofft auf die Fernsehauftritte als Unterstützung für die Verkäufe. Es sollte anders kommen: amerikanische Radio-DJs spielen
I Want To Hold Your Hand schon ab November 1963 rauf und runter, die Plattenfirmen ziehen den Verkaufsstart auf Ende Dezember vor, und Ende Januar 1964 hat der Song den ersten Platz der Hitparade erobert. Die Charterfolg und die Dauerberieselung auf den Radiowellen befeuert nun die Vorfreude auf den Fernsehauftritt, vorgesehen war es umgekehrt. Pilzkopf-Perücken sind bereits der Verkaufshit, und überall in der Stadt tauchen Poster und Aufkleber auf: "The Beatles Are Coming". Die lokalen Radiomoderatoren geben Flugnummer (Pan Am 101) und Ankunftszeit der Beatles direkt an die Fans weiter.
Am Freitag, dem 7. Februar 1964 landen die Beatles auf dem New Yorker Flughafen JFK (bislang bekannt als Idlewild-Airport, das Attentat auf US-Präsident John F. Kennedy liegt noch keine 3 Monate zurück). John, Paul, George und Ringo steigen am frühen Nachmittag aus der Boeing 707 und trauen ihren Augen und Ohren kaum: mindestens 3.000 kreischende Fans, hauptsächlich junge Mädchen, und 200 Reporter erwarten die Ankunft der Chartstürmer aus Liverpool.
Bild: billboard.com
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In einer ersten Pressekonferenz in der Pan Am Lounge am Flughafen versuchen die Journalisten zu ergründen, welcher Fieberwahn die amerikanische Jugend befallen hat. Insbesondere die langen Haare schockieren das Establishment: "Helfen euch die Haare beim Singen?", "Wie viele von euch haben eine Glatze, dass ihr diese Perücken tragen müsst?", "Geht ihr zum Friseur, solange ihr hier seid?" - Paul McCartney verneint, George Harrison kontert: "Ich war gestern beim Friseur." Schockschwerenot, und dann sind die immer noch so lang!
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Die Nachfrage nach Tickets für die Ed Sullivan Show am Sonntagabend stellt alles Bisherige weit in den Schatten: für die 728 Sitzplätze im CBS Studio 50 (dem heutigen Ed Sullivan Theater) liegen über 50.000 Anfragen vor. Jeder mit Einfluss versucht seinen Töchtern noch Karten zu verschaffen, der spätere Präsident Richard Nixon bringt seine Mädchen Tricia und Julie unter, Komponist und Dirigent Leonard Bernstein zieht den Kürzeren.
Am 9. Februar eröffnen die Beatles nach kurzer Vorstellung durch Ed Sullivan wenige Minuten nach 20 Uhr Ortszeit die Show mit
All My Loving,
Till There Was You und
She Loves You. Um die vier langhaarigen Musiker voneinander unterscheiden zu können, wird beim zweiten Song bei Nahaufnahmen der jeweilige Name mit eingeblendet. Bei John Lennon steht die bestürzende Meldung darunter: "Tut uns leid, Mädels. Er ist verheiratet." (seine Ehefrau Cynthia ist in New York mit dabei). Der allgemeinen Begeisterung des (vor allem weiblichen) Publikums tut das keinen Abbruch. Für die nachfolgenden Künstler der Varieté-Show lässt die Aufmerksamkeit nach, Ed Sullivan bittet zwischendurch um Ruhe, "sonst lasse ich einen Friseur kommen". Später beschließen die Beatles die einstündige Sendung mit
I Saw Her Standing There und dem aktuellen Nummer-Eins-Hit
I Want to Hold Your Hand.
Bild: tvinsider.com
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Üblicherweise lockt die Ed Sullivan Show etwa 21 Millionen Amerikaner vor die Bildschirme. An diesem Abend sind es 73 Millionen, eine für lange Zeit bestehende Rekordquote im US-Fernsehen. Ähnlich gut läuft es eine Woche später, am 16. Februar sendet die Ed Sullivan Show live aus Miami, Florida, direkt aus dem Napoleon Ballroom im Deauville Hotel. Die Beatles werden durch einen Menschenauflauf beinahe daran gehindert, die Bühne zu betreten, eine Kette aus Polizisten rettet den Live-Gig in letzter Sekunde. Und auch in der Folgewoche sind die vier Pilzköpfe in der Show zu sehen, diesmal als Aufzeichnung, die bereits vor ihrem ersten Auftritt abgefilmt wurde. Die Beatles selbst sind zu diesem Zeitpunkt schon wieder nach England zurückgekehrt.
Ihr erster Aufenthalt in den Vereinigten Staaten hat die Musiklandschaft umgepflügt: die Beatlemania steigert sich endgültig von der Epidemie zur Pandemie. Kurz darauf belegen die Newcomer aus Liverpool alleine die ersten fünf Ränge der amerikanischen Hitparade, Die "British Invasion" in der Popmusik ist nicht mehr aufzuhalten, die ehemaligen Kolonien orientieren sich erneut am einstigen Mutterland.